Die angeschwollenen Target-Salden der Bundesbank lösten eine hitzige Debatte aus. Damals machte Ex-Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger den Ökonomen Hans-Werner Sinn darauf aufmerksam. Überzeugt davon, dass die Target-Forderungen von knapp 500 Milliarden Euro bei der Bundesbank ein immenses Risiko darstellen, fachte Sinn eine Debatte an, die jedoch in der breiten Masse aufgrund der Komplexität nie ankam. Wir stellten klärende Fragen an den Ökonomen Rudolf Hickel.
Herr Professor Hickel, wie funktioniert das Target-Salden-System des Eurosystems und warum konnten sich riesige Forderungen in der Bundesbankbilanz sammeln?
Es ist ein Problem der Konstruktion der Europäischen Zentralbank. Die Europäische Zentralbank nutzt im Grunde genommen ihre Notenbanken, also in dem Fall die Deutsche Bundesbank oder auch die griechische Notenbank, für ihre Geschäfte erheblich stärker, als es üblich ist bei einer Notenbank. Das will ich Ihnen jetzt mal anhand eines einfachen Geschäftes erklären: Wenn ein Unternehmen aus Thessaloniki Kraftwagen bestellt bei Mercedes in Stuttgart, dann wird der bezahlt durch die griechische Hausbank in Thessaloniki. Und irgendwann, um mal gleich ans Ende zu kommen, kommt die Bezahlung an bei der Hausbank in Stuttgart.
Jetzt betrachten wir das dazwischen geschaltete Bezahlungssystem. Das wird jetzt folgendermaßen erfasst: Im Grunde genommen ist es eine Verbindlichkeit der griechischen Notenbank gegenüber der Europäischen Zentralbank, weil die den Zahlungsverkehr sichern müssen, und bei der Deutschen Bundesbank ist es eine Forderung. Das ist aber rein buchungstechnisch eine Forderung, die die Deutsche Bundesbank an die Europäische Zentralbank hat. Würde man sozusagen die zwei Notenbanken weglassen, würde man das gar nicht sehen. Das ist der Vorgang. Die Deutsche Bundesbank hat also Forderungen gegenüber der Europäischen Zentralbank aufgrund dieses Exportgeschäftes. Und wenn jetzt die Handelsbilanzen mehr oder weniger ausgeglichen sind, spielt das überhaupt keine Rolle. Weil dann bestellt beispielsweise ein Unternehmen in Deutschland Oliven. Ein bisschen abstruser, aber macht ja nichts. Da ist es genau umgedreht. Da hätten wir eine Verbindlichkeit bei der Deutschen Bundesbank gegenüber der Europäischen Zentralbank, und eine Forderung der griechischen Notenbank an die Europäische Zentralbank.
Jetzt gibt es aber zwei wichtige Gründe, warum das zum Problem geworden ist und überhaupt auffällt. Es gibt eine unglaublich ungleiche Entwicklung. Deutschland hat enorme Exportüberschüsse. Damit ist natürlich klar, dass buchungstechnisch der Forderungsbestand, sofern alles andere konstant ist, enorm wächst. Praktisch das Ungleichgewicht zwischen Export und Import drückt sich dann aus in dem hohen Forderungsbestand.
Aber den hohen Export hatten wir vorher auch schon.
Stimmt genau. Das ist früher ausgeglichen worden durch Kredite, die von der Hausbank zur Verfügung gestellt wurden. Dadurch war es kompensiert. Dann entsteht sozusagen eine Verbindlichkeit der Bundesbank gegenüber der EZB im Rahmen der Kreditvergabe und eine Forderung in der griechischen Bank. Und dieses Modell ist zusammengebrochen. Im Grunde genommen ist die Gegenbuchung ausgefallen. Und zweitens, weil die griechischen Banken sich bei der EZB verschulden mussten. Daher kommt das Ungleichgewicht, sie sehen sozusagen die Verschuldung im Verhältnis zu Deutschland als Gegenbuchung nicht mehr. Sondern Deutschland hat hier nur noch den Forderungsbestand, weil die Gegenbewegung über Verbindlichkeiten, die die Forderung reduziert, wegfällt.
Insoweit kann man sagen, dass diese Forderungssalden der Deutschen Bundesbank mit dem ganz realwirtschaftlichen Überschuss an Exporten gegenüber Importen zusammenhängen. Und dass sich zum Zweiten die Finanzierung der Defizite verändert hat. Und auch die veränderte Refinanzierung der Geschäftsbanken spielt eine Rolle.
Ist es denn nun dramatisch, diese hohen Salden?
Normalerweise würde man saldieren: Forderungen minus Verbindlichkeiten, dann wären Sie vielleicht bei 10 Milliarden. Das ist ganz normal. Hier muss ich aber Hans-Werner Sinn Recht geben, die Salden sind dramatisch groß und zu einem Risiko geworden. Jetzt kann man natürlich sagen, dass wenn Griechenland zusammenbricht, dann natürlich da eine Forderung steht. Die Forderung besteht gegenüber der Europäischen Zentralbank. Aber die Europäische Zentralbank würde dann, und jetzt kann man es wieder entdramatisieren, dafür auch einspringen. Sinn hat Recht, wenn er das ganze als Krisenindikator nimmt. Und auch ich sehe hier eine Fehlentwicklung.
Axel Weber, der ehemalige Bundesbankpräsident, sagt, es sei eine völlig überzogene, völlig hysterische Debatte. Ein normaler Mensch versteht das gar nicht so richtig, warum da jetzt eine EZB einerseits ist und eine Verbindlichkeitsposition aufbaut gegenüber einer Notenbank, die ja im Grunde genommen nur Erfüllungsgehilfen sind. Die haben ja keine Autonomie mehr, wenn Sie so wollen sind das Rechnungsstellen. Aber das System ist so konstruiert, dass diese ganzen Buchungsvorgänge nicht die EZB übernimmt, Zitat Weber „dass es keine Marktabteilung gibt“. Im Grund genommen, wenn die EZB eine Marktabteilung hätte, würde alles über die EZB abgewickelt werden. Jetzt haben sie aber keine Marktabteilung, sondern haben die Mitgliedsbanken, die wickeln den Zahlungsverkehr ab. Und dadurch ist es sichtbar. Und dadurch kann man jetzt im ersten Moment, prima vista sagen: Oh Gott, fünf oder zehn Milliarden sind jetzt Verbindlichkeiten.
Aber wenn das alles so offensichtlich ist, warum braucht ein Ex-Bundesbankpräsident und ein Professor Sinn dann Wochen, um das ganze überhaupt zu verstehen?
Das ist eine gute Frage. Ich kann die nicht beantworten. Als die Debatte losgetreten worden ist, habe ich mich sofort sachkundig gemacht und habe sehr früh den Eindruck gehabt, dass er da was hochgespielt hat.
Hochgespielt?
Wenn man sich die Bankbilanzen ansieht, und speziell die Forderungs-Verbindlichkeits-Beziehung, könnte man sagen: Aha, wenn jetzt Griechenland zusammenbricht oder das gesamte Eurosystem, dann hat die Bundesbank eine Forderung gegenüber der EZB. Die Vorstellung ist naiv. Weil die Bundesbank ist keine nationalstaatliche Notenbank mehr. Im Grunde genommen ist sie eine Mitgliedsbank und damit Erfüllungsgehilfe der EZB. Und es dürfte eigentlich kein Problem sein. Also: Er hat sich da richtig verrannt. Die Suggestion, sobald eine Forderung besteht gegenüber der EZB aufgrund einer bestimmten Technik des Verbuchens der Zahlungsströme zwischen In- und Ausland, die hat er meines Erachtens völlig überschätzt. Im Grunde genommen, ist es eine Phantomdebatte.
Also um das ganz klar auf den Punkt zu bringen: Es ist eigentlich keine reale Forderung?
Es ist keine reale Forderung.
Was wenn Euroland tatsächlich zusammenbrechen würde und jedes Land hätte wieder seine eigenen Notenbanken?
Dann hätten wir die Forderungen gegenüber den anderen Nationalbanken. Dann müsste man sehen, wie man es buchungstechnisch bereinigt.
Sie sind merklich ein Fürsprecher der Währungsunion?
Ja, ich bin ein Fürsprecher. Ich teile die Auffassung der Bundeskanzlerin und vieler anderer auch, dass ein Zusammenbruch auch Deutschland anstecken würde. Das ist das eine. Das zweite ist, was viel wichtiger ist: Ich habe das Szenario durchgespielt, auch im Konflikt mit Sinn. Wir haben da einen großen Konflikt in einer Zeitung gehabt. Wenn Griechenland jetzt rausgeht und die Drachme einführt, dann ist meine These: Griechenland wird dauerhaft zur Elends-Ökonomie. Wenn die Drachme eingeführt wird gegenüber dem bisherigen Euro-System, gibt es dort eine massive Abwertung. Das sie dann wieder internationale konkurrenzfähig werden, ist aber ein Nonsens-Argument. Weil die griechische Exportwirtschaft, selbst durch den großen Preisvorteil durch die Abwertung, so schwach, so unterbesetzt, so strukturschwach ist, dass das gar nichts nützt. Im Grunde genommen gibt es keine Exportwirtschaft- wer soll also gewinnen? Wenn Sie das in Deutschland machen, dann haben Sie natürlich einen Riesenboom. Wenn Sie nur zehn Prozent an Preisvorteil haben durch eine Abwertung bei einem Land wie Deutschland mit seiner hohen Exportabhängigkeit und mit einer hohen internationalen Konkurrenzfähigkeit, dann haben Sie eine ganz andere Funktion. Also ich sage: Das klassische Argument aus dem Lehrbuch, dass man mit einer Abwertung Preisvorteile in der Exportwirtschaft schafft, stimmt für Griechenland nicht – weil es die Exportwirtschaft nicht gibt.
Dann gibt es das zweite Argument – da gibt es eine harte Kontroverse. Das Argument ist: Bei einer Abwertung verspiele ich natürlich Vertrauen der Importpreise. Die Produkte werden dann teurer, viel teurer. Zum Beispiel Energie oder Konsumgüter. Und da sage ich zum Sinn: Da haben wir ein Problem. Da kriegen wir intern Inflationsdruck, in einer Deflation oder in einer Rezessionssituation kriegen wir auch noch einen starken Inflationsschub. Da sagt der Sinn ganz brutal: Ja, die Importe sollten sich ja verteuern, damit sie im Grunde genommen ausländische Produkte verdrängen, so dass die heimische Produktion gestärkt wird. Das ist natürlich schon ganz schön naiv. Energie kann nicht einfach verdrängt werden durch heimische Produktion. Wollen Sie die Öfen mit Olivenbäumen beheizen? Deshalb bin ich der Meinung, dass so ein Modell des Ausstiegs mit einer eigenen Währung am Ende eine Katastrophe ist. Und dann kommt natürlich dazu, dass sich die ganzen Vermögensbestände weltweit abwerten, und das wird auch noch mal zu einem Riesenproblem führen. Also, ich sage: Lieber eine Strategie finden, da herauszukommen, wobei das sehr schwierig ist. Ich bin aber bei Griechenland zurzeit ein bisschen optimistischer, da sie den Haircut jetzt gemacht haben. Aber es gilt ein großes Problem zu lösen: Der griechische Mittelstand ist sehr schwach und muss Exportfähigkeit und internationale Konkurrenzfähigkeit aufbauen.
Danke Herr Prof. Hickel für Ihre Zeit.
Das Interview führte Julien Backhaus am 29.03. in Bremen.