Auszug aus »Cloud Money« von Brett Scott
Der Krieg gegen das Bargeld ist offensichtlich und doch vor aller Augen verborgen. Trotzdem wollen wir für einen Moment annehmen, dass es eine »Verschwörung« wäre. Wer wären die »Verschwörer«, und was hätten sie davon?
Verschwörer 1: Der Bankensektor
Die Abschaffung von Bargeld würde die Menschen bei allen Zahlungen vollständig vom Bankensektor abhängig machen; dies bedeutete, dass das Bankgewerbe grundsätzlich sehr davon profitieren könnte. Wenn man in die Insiderwelt des Bankwesens hineinschnuppert – indem man Branchenmagazine liest und an Bankenkonferenzen teilnimmt –, stößt man auf eine verbreitete Ablehnung von Bargeld. So erklärte etwa Brian Moynihan, CEO der Bank of America, im Juni 2019, dass »wir uns eine bargeldlose Gesellschaft wünschen«, und er verwies darauf, dass sein Unternehmen »mehr als irgendjemand sonst« von der Umstellung auf digitale Transaktionen »profitieren würde«.
Während Banken sich zu Branchenverbänden zusammenschließen, um eine gemeinsame Front zu bilden, geht es ihnen auf kürzere Sicht vor allem darum, ihre individuellen Gewinne zu steigern. Dazu setzen sie in der Regel auf eine Kombination aus Kostensenkungen und Einnahmenerhöhungen. Was Erstere anlangt, betrachten Banken ihr Bargeld und Geldautomatengeschäft als einen Kostenfaktor, ein unprofitables Ärgernis, zu dem sie gezwungen sind, um ihren Kunden zu ermöglichen, »ihr Geld aus der Bank zu holen«. Es wäre angenehm, wenn die Kunden langsam vergessen würden, dass sie dieses Recht »auszusteigen« haben, oder wenn ihnen langsam, durch leichte »Stupser« (Nudging) diese Option genommen würde. Banken probieren alle möglichen Taktiken aus, um ihre Kunden vom Bargeldgebrauch abzuhalten, und sie haben zunehmend das Gefühl, dazu berechtigt zu sein, Menschen dafür zu bestrafen.
Andererseits haben Banken einen Anreiz, digitale Zahlungen zu fördern. Zwei Haupteinnahmequellen von Großbanken sind Zinsen und Gebühren. Kreditkarten verschaffen ihnen beides, und Debitkarten verschaffen ihnen Gebühreneinnahmen. Ihre Abteilungen für digitalen Zahlungsverkehr sind Profitcenter, die einen positiven Ertrag generieren. Ihre Geschäftsberichte bestätigen diese Einschätzung; sie rühmen sich ihrer Erfolge beim Ausbau ihrer Abteilungen für digitale Zahlungsabwicklung, während sie ihre lahmen oder kostspieligeren physischen Filial- und Geldautomatennetze ausdünnen. Sie können nicht nur ihren Gewinn steigern, indem sie Kunden in digitale Kanäle drängen, wo sie mithilfe von Algorithmen und Kundenservice-Bots aus der Ferne betreut werden können, vielmehr generieren digitale Zahlungen auch Daten über das Kundenverhalten. Banken können daraus Kundenprofile erstellen, die ihnen helfen, das Verhalten von Kontoinhabern vorherzusagen und diesen ergänzende, zusätzliche Produkte zu verkaufen.
»Wir wünschen uns eine bargeldlose Gesellschaft.«
– Brian Moynihan
Verschwörer 2: Die Zahlungsunternehmen
Für Unternehmen wie Visa und Mastercard ist das Problem einfach. Sie erzielen Gebühreneinnahmen, wenn sie Überweisungen zwischen Bankkonten erleichtern, und sie sehen im Bargeld eine unliebsame Konkurrenz, die es zu beseitigen gilt. Begeistert von dem unerschlossenen Potenzial bargeldlastiger, ärmerer Volkswirtschaften trommeln sie für die »finanzielle Inklusion« und verkünden humanitäre Ideale. Anders als Banken, die ihre bargeldfeindliche Haltung im Allgemeinen diplomatischer zum Ausdruck bringen, ist der Geschäftsbericht von Visa voller unverblümter Kriegserklärungen gegen das Bargeld. Voller Eifer spricht man davon, die Menschen von Bargeld »zu befreien«, so wie selbstgerechte Kreuzritter einst über die Befreiung des Heiligen Landes schwadronierten.
Diesen Kreuzzug führen sie vor allem an zwei Fronten, mit hauptsächlich zwei Taktiken. Die Front, die sie kontrollieren, ist der E-Commerce im Internet, der wie erwähnt ein natürliches Terrain für digitale Zahlungen ist. Zahlungsunternehmen verbünden sich mit Online-Firmen in dem gemeinsamen Bestreben, Menschen von den traditionellen, physischen Geschäften wegzulocken. Die zweite und viel schwierigere Front ist der herkömmliche, stationäre Handel. Bargeld zeigt seine Stärke insbesondere in Situationen physischer Nähe, daher nutzen Zahlungsunternehmen eine Vielzahl von Apps, Karten und POS-Terminals (am point of sales, dem Verkaufsort, eingerichtet) um Bargeld direkt auf seinem angestammten Terrain zu bekämpfen.
Die erste Kampftaktik besteht darin, die Vorzüge digitalen Bezahlens anzupreisen und Leute anzuwerben, damit sie es in ihrem Namen promoten. In Indien zum Beispiel hat Visa die Kampagne »Der bargeldlose Mensch von Indien« durchgeführt und eine weitere unter dem Titel »Freundlichkeit ist bargeldlos«. Die zweite Taktik besteht darin, Bargeld zu dämonisieren. So hat etwa Visa Großbritannien im Jahr 2016 seine Werbekampagne »Bargeldlos und stolz« gestartet, wobei das Unternehmen im Hintergrund darauf hinwies, dass die »Kampagne der jüngste Schritt in Visa Großbritanniens langfristiger Strategie ist, Bargeld bis 2020 ›sonderbar‹ zu machen«. Dies war in vielerlei Hinsicht ein Erfolg. Die Kampagne wurde auf Londoner Reklametafeln, in Rundfunk und Fernsehen ausgerollt, und im Jahr 2019 schien es, als hätte sich das psychologische Gleichgewicht in der Stadt in Richtung digitaler Zahlungen verschoben. Eine Unzahl schicker Hipster-Läden, die kein Bargeld annahmen, schossen wie ein physisches Mem aus dem Boden, unterstützt durch die Anreize, die Visa anbot (in den USA schloss dies unter anderem den Cashless-Challenge-Wettbewerb ein, bei dem das Unternehmen kleinen, trendigen Läden, die »bargeldfrei werden«, Preise im Wert von 10 000 Dollar überreichte).
Die Branche hat Kreditkartenzahlungen durchweg als sicherer, sauberer und »statushöher« als Bargeld beworben […].
Im Jahr 2020 wurde diese Dämonisierung weiter beschleunigt, als große Einzelhändler einen Tipp von Zahlungsunternehmen befolgten und – fälschlicherweise – Bargeld mit Covid in Zusammenhang brachten. So hatte zum Beispiel der große Sportartikelhändler Decathlon am Eingang seines Londoner Megastores große Schilder mit der Aufschrift: »Zu Ihrer eigenen Sicherheit akzeptieren wir nur Kartenzahlungen« aufgestellt. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass die Bank of England einen wissenschaftlichen Bericht veröffentlichte, in dem es hieß, dass Kartenmaschinen, Trolleygriffe, Güter auf offenen Regalen und die Bildschirme von Selbstbedienungskassen – die es alle bei Decathlon gibt – ein viel höheres Risiko für die Verbreitung des Virus darstellten als Bargeld.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches mag es durchaus so sein, dass Bargeld in London als »sehr seltsam« erscheint, aber vor 50 Jahren galt Bargeld als etwas vollkommen Normales. Doch vor 50 Jahren war Visa auch erst ein junges Unternehmen (mit einem anderen Namen). Im Lauf der Jahre ist es ihm und anderen gelungen, Bargeld in ein zweifelhaftes moralisches Licht zu rücken. Die Branche hat Kreditkartenzahlungen durchweg als sicherer, sauberer und »statushöher« als Bargeld beworben und auf diese Weise Letzteres nach und nach mit Verbrechen, Krankheiten und niedrigem Status in Verbindung gebracht. Zahlungsunternehmen stellen Bargeld sogar als ökologisch nicht nachhaltig hin, als hätte der von digitalen Zahlungen befeuerte Internethandel nicht zu einer massiven Zunahme energieintensiver Logistik und des Konsums geführt.
Verschwörer 3: Die Finanztechnologie-Branche
Die Fintech-Branche hat sich auf die Automatisierung finanzieller Dienstleistungen im weiteren Sinne (wie etwa die Automatisierung des Entscheidungsprozesses bezüglich der Frage, wer einen Kredit bekommt) spezialisiert, aber praktisch alle Fintechs stützen sich auf die Infrastruktur, die ihnen von Banken und Zahlungsunternehmen bereitgestellt wird. Sie sind natürliche Verbündete, denn um Finanzdienstleistungen im Allgemeinen zu automatisieren, muss man Zahlungssysteme im Besonderen automatisieren. Einfach ausgedrückt: Digitale Finanzdienstleistungen funktionieren nicht mit nichtdigitalen Zahlungen, und Fintech-Entwickler betrachten Bargeld als einen Hemmschuh für die von ihnen angestrebte Automatisierung von Finanztransaktionen. Bei meinem letzten Besuch in Level39, dem großen Fintech-Zentrum in London, weigerte man sich, an der Bar Bargeld anzunehmen. Als ich fragte, warum, sah man mich fassungslos an. Der Erfolg von Fintechs beruht auf der Abwendung vom Bargeld. Da lag es auf der Hand, dass man hier keines annehmen würde!
Allerdings sind sie nicht die einzigen Tech-Unternehmen, die davon abhängig sind – im Jahr 2019 setzte Amazon alle Hebel in Bewegung, um ein Gesetz zu verhindern, das Geschäfte in Städten wie Philadelphia dazu verpflichtete, Bargeld anzunehmen. Bargeld verträgt sich nicht mit Automatisierung, was bedeutet, dass sich Amazon – das erstmals ein »menschenfreies«, automatisiertes System einführt, wie es die Welt noch nicht gesehen hat – nicht mit Bargeld verträgt. Dies ist ein wichtiges Thema, auf das wir später zurückkommen werden.
Verschwörer 4: Staaten und Zentralbanken
In staatsfeindlichen, libertären Kreisen wird die Kampagne gegen das Bargeld so dargestellt, als würde sie von einem Big-Brother Staat orchestriert, der Transaktionen überwachen will, um noch mehr Kontrolle zu gewinnen. Jede digitale Bankzahlung wird in einer Datenbank verbucht und hinterlässt eine klare Datenspur. Zu den Behörden, die gern Zugriff auf diese Daten hätten, gehören etwa die Finanzämter – die so Steuerhinterziehern auf die Schliche kommen könnten – und Sicherheitsbehörden, denen diese Daten das Aufspüren von Geldwäschern, Terrorfinanziers oder auch politisch Andersdenkenden (Aktivisten, die sich für Demokratie, Umwelt oder die Rechte von Minderheiten einsetzen, und so weiter) erleichtern würden. Dann ist da auch noch die Zentralbank, die sich vielleicht eine größere allgemeine Überwachung der Wirtschaftstätigkeit eines Landes und stärkere geldpolitische Kontrolle wünscht.
Insbesondere Deutschland hat Barzahlungsobergrenzen bislang entschieden abgelehnt.
Libertäre liegen nicht falsch mit diesen Verdächtigungen, denn es gibt eine Vielzahl von Belegen für unverhohlene staatliche Maßnahmen gegen Bargeld. Zwölf EU-Mitgliedstaaten haben »Bargeldzahlungsobergrenzen« eingeführt, um mit der Begründung, Terrorfinanzierung und Geldwäsche bekämpfen zu wollen, das Bezahlen mit Bargeld über einen gewissen Betrag hinaus (zum Beispiel 1000 Euro in Portugal) zu verbieten. Weitere Staaten mit Höchstgrenzen sind Uruguay, Mexiko und Jamaika, und Indien und Russland haben ebenfalls vor, diese einzuführen. Die Obergrenzen sollen im Lauf der Zeit allmählich sinken, um den Menschen Bargeldkäufe abzugewöhnen. So begann Griechenland zum Beispiel mit einer Bargeldzahlungshöchstgrenze von 1500 Euro, die es dann auf 500 Euro absenkte, und vor Kurzem wurde dort eine weitere Herabsetzung auf 300 Euro angekündigt.
Insbesondere Deutschland hat Barzahlungsobergrenzen bislang entschieden abgelehnt. Dies ist interessant, weil Experten, die Bargeldgegner sind, die Nachfrage nach Bargeld als etwas darstellen, das vom organisierten Verbrechen und von Korruption angetrieben sei, und trotzdem nimmt Deutschland auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2020 unter 180 Ländern den neunten Rang ein, was bedeutet, dass es als in hohem Maße vertrauenswürdig angesehen wird. Die paternalistische Botschaft in Ländern wie Italien und Griechenland lautet, dass Personen, die Bargeld wollen, zwielichtige Steuerhinterzieher sind, während Deutsche, die das Gleiche wollen, als Menschen dargestellt werden, die großen Wert auf den Schutz ihrer persönlichen Daten legen oder ihre Ersparnisse klugerweise unter der Matratze aufbewahren.
Kein Staat hat es bislang gewagt, ein Gesetz zu erlassen, das Bargeldzahlungen verbietet, aber viele haben nationale Strategien für den allmählichen Ausstieg aus dem Bargeld entwickelt. Frankreich hat eine »Strategie für bargeldloses Bezahlen«, und der griechische Staat ergeht sich (unter dem starken Druck von Gläubigern, die die Rückzahlung drückender Schulden fordern, die Griechenland aufgrund der opportunistischen Kreditvergabe deutscher und französischer Banken angehäuft hat) in einer aggressiven Rhetorik der Bargeldfeindlichkeit, um steuerliche Bagatellvergehen aus der Welt zu schaffen. Weitere offen bargeldfeindliche Staaten sind Nigeria und Ungarn. Diese Staaten ergänzen ihre »Anti-Cash«-Rhetorik, indem sie Loblieder auf die digitale Zahlungsindustrie singen und die Einführung des digitalen Banking fördern. Ihre Unterstützung nimmt unterschiedliche Formen an, von staatlich finanzierten digitalen Innovationszentren bis hin zu Zahlungen an Sozialhilfeempfänger über digitale Zahlungsplattformen, und dies geht oft mit der Weigerung einher, staatliche Barmittel für staatliche Dienstleistungen anzunehmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Sachwert Magazin ePaper Nr. 118 –> LINK