Die Zukunft des Strassenverkehrs ist eine Geschichte von zwei Städten. Eine wird von Los Angeles verkörpert, deren Einwohner volle vier Tage im Jahr im Stau verbringen und die Abgase einatmen müssen. Während 80 Prozent aller Fahrten dort mit dem Auto vorgenommen werden, sieht die Sache in Kopenhagen ganz anders aus. Dort werden beinahe 60 Prozent aller Strecken nicht mit einem Kraftfahrzeug, sondern mit dem Fahrrad oder zu Fuss zurückgelegt. In Dänemarks Hauptstadt fliesst der Strassenverkehr im Vergleich zu L.A. zügiger, die Luft ist sauberer, und es lebt sich generell besser.
Nun ja, Letzteres ist vielleicht übertrieben, aber die Wahrheit ist, dass diese Städte für eine Wahl stehen: ob das Auto unser Hauptverkehrsmittel sein sollte oder nicht. Am dringendsten mit dieser Frage konfrontiert sehen sich China und Indien. Mit einem Drittel der Weltbevölkerung und nahezu einem Drittel aller weltweit verkauften Neuwagen müssen diese aufstrebenden Riesen für weitreichende Änderungen sorgen, um nicht von einer Flut von Fahrzeugen erstickt und paralysiert zu werden. In Industrieländern ist die Gefahr zwar weniger akut, aber dennoch real. Hier sind aber auch schon Anzeichen für Hoffnung und einen Wandel zu erkennen.
Der wichtigste Grund für einen Wandel ist nicht das saubere Kopenhagen, sondern das Verkehrschaos in Schanghai, Mumbai und anderen wachsenden Millionenstädten. Peking kommt die zweifelhafte Ehre zu, Schauplatz des weltweit grössten Verkehrsstaus gewesen zu sein – 2010 erstreckte sich eine 100 Kilometer lange Blechlawine in den Nordwesten der Stadt. Während die Fahrzeuge tagelang im Stau feststeckten, wurden hunderte von Polizisten gerufen, um die Köpfe der überhitzten Autofahrer abzukühlen, und eine noch grössere Schar von Strassenhändlern eilte herbei, um ihnen überteuerte Lebensmittel und Getränke zu verkaufen. Obwohl normale Verkehrsstörungen nicht solche aussergewöhnlichen Massnahmen auslösen, sind sie dennoch kostspielig. Die Überlastung des Strassennetzes – gemessen als verschwendete Zeit und Ressourcen plus entgangene Chancen – kostet beispielsweise Grossbritannien jedes Jahr rund GBP 20 Mia. Allein in London belaufen sich die Kosten laut einem Bericht der Credit Suisse mit dem Titel «Themes in Energy Efficiency» auf GBP 2 Mia. Verschlimmert wird das Problem des Verkehrsinfarkts noch durch eine sehr schlechte Luftqualität. In China ist der dunstige Himmel einfach nicht mehr zu übersehen, und selbst in Gebieten, in denen das Problem weniger offensichtlich ist, droht Luftverschmutzung. In 1000 der 1500 grössten Städte der Erde übersteigt die Russkonzentration in der Atmosphäre die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeschriebenen Grenzwerte. Dies ist nicht nur unangenehm für die Lunge, sondern auch tödlich und führt laut Zahlen der WHO jährlich zum vorzeitigen Tod von 100’000 bis mehreren Millionen Menschen.
Es gibt einen besseren Weg. Die Verringerung unserer Abhängigkeit von Fahrzeugen, so die Analysten der Credit Suisse Eugene Klerk, Richard Kersley und Ashlee Ramanathan, ist der Schlüssel zu einer lebenswerten Zukunft. Und das ist vielleicht einfacher, als viele von uns denken mögen. Einer der offensichtlichsten Ansatzpunkte sind Strecken von 8 km oder weniger, auf die rund zwei Drittel aller Fahrten entfallen. Nicht nur die Einwohner von Kopenhagen, sondern auch von Amsterdam, Antwerpen und Bremen beweisen bereits, dass die meisten dieser Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuss zurückgelegt werden können. Alle diese Möglichkeiten befördern eine höhere Anzahl von Personen, nehmen weniger Platz in Anspruch und verbrauchen weniger Energie als Autos.
… und zudem billiger
Für Stadtbewohner sind sie darüber hinaus kostengünstiger. Eugene Klerk von der Credit Suisse und seine Kollegen haben dies vor Kurzem in einer Analyse der Fahrtkosten in Peking, London, New York und Tokio nachgewiesen. An jedem Ort sind die Kosten für den Individualverkehr wesentlich höher als für öffentliche Verkehrsmittel – von dreimal so hoch in London bis zu achtmal so hoch in Peking, wobei New York und Tokio ungefähr in der Mitte dazwischen liegen. Dies ist kein kleiner Anreiz. Selbst in den autoverliebten USA, die mit einer Quote von acht Autos auf zehn Einwohner weltweit führend sind, fressen die Transportkosten in städtischen Gebieten 20-30 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens auf.
Nach den Telefonen wird jetzt auch das Fahren und Parken durch intelligente Technik unterstützt
Eine weitere Möglichkeit, Verkehrsstaus zu verringern, ist die Nutzung von Technologie. Bereits 1989 stellte Volkswagen auf der weltweit grössten Industriemesse, der Hannover Messe, stolz die Möglichkeit vor, Autos ferngesteuert zu lenken und diese zu platz- und kraftstoffsparenden Konvois zu bündeln, die mit Höchstgeschwindigkeit in Formation über die Autobahn brausen sowie per Autopilot über normale Nebenstrassen gesteuert werden können. Ein Vierteljahrhundert später scheinen diese Systeme dank der VW-Tochter Audi, anderen Automobilherstellern und dem allgegenwärtigen Google kurz vor der allgemeinen Markteinführung zu stehen. Laut letzterem Unternehmen wird durch das Fahren mit Autopilot nicht nur der Verkehr entlastet, sondern auch die Sicherheit erhöht. Angesichts der Tatsache, dass die meisten der 1,2 Mio. Todesfälle im Strassenverkehr durch menschliches Versagen verursacht werden, ist es fast selbstverständlich, dass die Menschen sich keine Sorgen über fahrerlose Autos machen sollten, sondern anders herum. Gleichzeitig erfährt das Parken ebenfalls grundlegende Veränderungen. Das ist kein Wunder angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel aller lokalen Verkehrsstaus durch die Suche nach einem Parkplatz verursacht werden. Neue Apps wie ParkMe, BestParking und JustPark können die Zeit für die Parkplatzsuche – die in New York und London durchschnittlich 15-20 Minuten beträgt – halbieren.
Strengere Vorschriften
Verbesserungen wie diese werden die Verkehrsprobleme mildern, jedoch nicht genug, damit wir uns endgültig vom Auto verabschieden. Die Entlastung der Strassen und der Luft muss von den Regierungen in die Hand genommen werden. Die wichtigsten Massnahmen sind laut Eugene Klerk und seinen Kollegen Vorschriften zur Energieeffizienz und Emissionskontrolle, die die Staaten weiter verschärfen werden. Alternative Kraftstoffe halten sie für weniger effektiv. Im Gegensatz zu der noch vor fünf Jahren weitverbreiteten Ansicht wird nicht mehr erwartet, dass Elektrofahrzeuge spätestens 2020 (oder jemals) eine bedeutende Rolle spielen werden. Der Betrieb von Motoren mit Ethanol aus pflanzlicher Produktion, Biodiesel oder unkonventionellen fossilen Brennstoffen könnte zwar zu niedrigeren Emissionen führen, jedoch nur in marginalem Umfang. Ein weiterer regulatorischer Impuls wird darin bestehen, die Menschen zu veranlassen, ihr Auto stehen zu lassen und auf Bus, Bahn oder Fahrrad umzusteigen. Das ist eine schwierige Aufgabe, es sind jedoch Anzeichen für eine Trendwende erkennbar. Sowohl in den USA als auch in Grossbritannien haben deutlich weniger Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren einen Führerschein als ihre Altersgenossen vor 25 Jahren. Vielleicht, aber nur vielleicht, sind sie weniger autoverliebt als frühere Generationen.
Üppige Geldquelle?
Trotz vieler Unsicherheiten ist eines klar: Es werden Finanzierungspakete für den Verkehr erforderlich sein. Selbst mit all den vorstehend genannten Maßnahmen wird sich die weltweite Fahrzeugflotte laut den Prognosen der Credit Suisse dennoch bis 2035 verdoppeln. Dann ist da die Infrastruktur: Durch die Schaffung eines Strassennetzes, das dem der entwickelten Welt entspricht, wird sich beispielsweise in China die Grösse des derzeitigen Strassennetzes auf 16-17 Mio. km vervierfachen. All dies erfordert, in US-Dollar gerechnet, Ausgaben im zweistelligen Billionenbereich. (Der Umsatz der US-Binnenwirtschaft liegt derzeit bei 17 Bio. USD) Ein wesentlicher Teil dieser Gelder wird gemeinnützigen Unternehmen zufließen, jedoch längst nicht allen. Eugene Klerk und seine Kollegen sind überzeugt, dass all die Veränderungen zu einer Geschichte von zwei Arten von Unternehmen führen werden: Gewinner und Verlierer.
Quelle: Credit Suisse
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