Ja, wir sind in der Krise. Wir haben eine Finanzkrise, eine Schuldenkrise, eine Eurokrise, eine Krise der Märkte schließlich; und in einigen wichtigen Staaten dieser Welt auch eine Politikkrise. Das ist eine reine Zustands-beschreibung, ein Gemeinplatz gewissermaßen, aber keine substantielle Analyse.
Wir haben eine Finanzkrise seit dem Zusammenbruch der Lehmann Brothers – eine Krise des Versagens vieler: der Banken mit ihren hypergefährlichen Derivaten und ihrer Kasinomentalität; der Rating-Agenturen mit ihren verantwortungslosen Zertifikaten und ihrer Komplizenschaft mit den Finanzmärkten; der Politik mit ihrer unmäßigen Deregulierung der Finanzmärkte, welche die Exzesse erst ermöglicht haben; der Gesellschaft in den Wohlstandsregionen dieser Welt mit ihrer Entsolidarisierung, mit Verantwortungsabstinenz, mit dem Hang zur Gier, die alles durchdringt. Der Höhepunkt der Krise liegt augenscheinlich hinter uns – dennoch die Krisen-Ursachen sind vielleicht erkannt, aber immer noch präsent. Mangel an Verantwortung war ein Auslöser Krise und hat Vertrauen zerstört. Verantwortung setzt dem Kapitalismus Grenzen.
Die Schuldenkrise mit milliardenschweren Rettungsschirmen in Europa und den USA; mit ebenso milliardenschweren Konjunkturprogrammen zur Rettung der Realwirtschaft. Tatsache ist doch, dass diesseits und jenseits des Atlantik die Schuldentürme in astronomische Höhen geschnellt sind, ehe die Staaten und damit die Bürger zum Rettungsanker der Finanzbranche und der Realwirtschaft wurden. Es gab zaghafte Versuche der Schuldenrückführung in manchen Staaten Europas; dennoch, die Schulden wurden über Jahrzehnte aufgetürmt, weil wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben, weil wir unsere Ansprüche an die Politik nicht zügeln wollten, und weil die Politik diese Ansprüche nur allzu gern in Wohltaten ummünzte. Die griechische Verschuldung ist nicht anders zu erklären, die italienische auch nicht, und auch nicht die deutsche.
Verantwortung setzt dem Staat Grenzen, setzt der Macht Grenzen. Subsidiarität ist die eigentliche Antwort auf die Schuldenkrise, Verantwortungsabstinenz führt in den Schuldenstaat. Die Eurokrise ist natürlich der Schuldenkrise (Griechenland, Portugal, Irland usw.) geschuldet; aber auch dies ist nur die halbe Wahrheit. Auch die Eurokrise ist eine Krise des Versagens: Regierungen , wie die deutsche und die französische haben den Maastrichtvertrag ignoriert, gebrochen und damit die Stabilitätsdämme für den Euro unterminiert; sie waren Türöffner für den Betrug Griechenlands, waren Alibi für die Maastricht-Sünder Italien, Portugal oder Belgien. Das Versagen von Maastricht war die Einladung an die Finanzmärkte, die Politik vorzuführen, in die Knie zu zwingen; die Politik wird im Übrigen mit den Waffen geschlagen, die sie den Finanzmärkten willfährig überlassen hat.
Die Eurokrise ist die Verantwortungskrise der Regierungen und Parlamente – sie hat das Vertrauen in die europäische Idee untergraben. Die Krise der Märkte schließlich: Ja, wir haben uns das Monster selbst heran gezüchtet. Gier wurde zum Lebenselexier der sogenannten Märkte. Die Finanzmärkte entwickelten sich zum Brandbeschleuniger. Da gilt auch nicht das Argument, die Märkte reagieren nur auf Ungleichgewichte, auf Verzerrungen, auf das Scheitern der Politik; die Märkte sind zu einem entscheidenden Mitspieler geworden, sie treiben die Staaten, treiben die Politik vor sich her. Sie haben sich mit ihren hochkomplexen und unkontrollierten Produkten, mit ihrem mathematisch gesteuerten Computerhandel, mit ihrem verantwortungslosen Herdentrieb, verselbständigt. Die Krise der Märkte produziert Krise.
Computer kennen keine Moral und die Spekulation bedeutet meist auch Verzicht auf Verantwortung für das Ganze. Die Politikkrise: Die Beispiele USA und Italien demonstrieren drastisch, wie handlungsunfähige oder handlungsunwillige Regierungen zum Krisenbeschleuniger werden. Am Beispiel Deutschlands oder auch Frankreichs erleben wir, dass demokratische Systeme sich beim Krisenmanagement schwer tun; dass klare, politische Führung ein hohes, aber selten erreichbares politisches Gut ist; dass Politik ohne die ehrliche Einbindung der Bürger eigentlich keine Chance hat. Politik wird zum Spielball enttäuschter Gruppen – die „Wahren Finnen“ in Finnland sind ein Alarmruf für die europäischen Demokratien, für die politische Klasse Europas; sie unterminieren die Stabilität von Finnlands Regierung und sie sind eine Blaupause für „wahre Italiener“ (Lega Nord), „wahre Franzosen“ (Le Pen), „wahre Österreicher“ (Die Freiheitlichen) usw. und usw. Nationale Egoismen sind das krasse Gegenteil von europäischer Verantwortung. Sie zerstören mühsam gewachsenes Vertrauen zwischen den Völkern.
Das überwölbende Dach dieser Krisen ist für mich die Krise des Vertrauens und damit verbunden die Krise der Verantwortung. Egal wie wir es nennen: Eurokrise,Schuldenkrise, Marktkrise, Politikkrise – wir erleben derzeit eine veritable Krise des Vertrauens. Der Bürger vertraut der Politik nicht mehr; die Märkte haben ihr Vertrauen in die Politik verloren; ja, auch die Marktteilnehmer untereinander vertrauen sich nicht mehr (Banken misstrauen Banken usw.); das Vertrauen der Staaten untereinander ist weg (wer traut den Griechen, den Italienern – Nordeuropa gegen Südeuropa – die armen Staaten gegen die Reichen – Schwellenländer gegen die Etablierten). Der Verlust von Vertrauen geht einher mit einem Verlust an Verantwortung – und zwar auf allen Ebenen.
September 2011
Alexander Niemetz
www.alexanderniemetz.de