Sie kennen Ihn als Schiedsrichter bei Europa- oder Weltmeisterschaften. Urs Meier hat jahrelang die wichtigen Fußballspiele dieser Welt begleitet und musste blitzschnell Entscheidungen treffen. Heute bringt er Menschen bei, sich zu entscheiden. Schnell. Haben Sie schon einmal nachgedacht, wie viele Entscheidungen Sie jeden Tag fällen? Schätzen Sie mal: 10, 20 oder 50?
Für welche Zahl Sie sich auch entscheiden: Sie ist falsch. Denn es sind mehr, viel mehr sogar! Man geht davon aus, dass man durchschnittlich bis zu 10.000 spontane Entscheidungen täglich trifft. Das sind die kleinen, die einem manchmal gar nicht bewusst werden: Ob man Wurst oder Marmelade aufs Frühstücksbrötchen gibt, ob man rennt, um den Bus noch zu erwischen. Aber es sind auch anspruchsvollere Entscheidungen dabei, zum Beispiel, ob man heut dem Chef endlich mal widerspricht, ob man das Ersparte für einen neuen Fernseher ausgibt oder lieber in die Altersvorsorge steckt.
Bis zu 10.000 Entscheidungen täglich – kommt es da noch auf jede einzelne an? Natürlich! Schließlich sind es Ihre Entscheidungen, ist es Ihr Leben und Ihre Freiheit, die Sie nutzen oder eben nicht. Ich erlebe oft, dass viele Menschen eine Scheu vor Entscheidungen haben. Dann entscheiden sie lieber gar nicht, oder sie suchen so lange nach der besten Lösung, bis das Schicksal oder jemand anderes die Sache für sie übernimmt – sie geben ihre Entscheidung aus der Hand.
„Schließlich sind es Ihre Entscheidungen, ist es Ihr Leben und Ihre Freiheit, die Sie nutzen oder eben nicht.“
Mir hat es immer Freude gemacht, Entscheidungen zu treffen. Daher wusste ich auch schon früh, dass ich Schiedsrichter werden wollte – ein Job, in dem Entscheiden unter extremen Bedingungen stattfindet. In einem normalen Spiel muss ich innerhalb einer Minute vier bis fünf Entscheidungen treffen. War es ein Foul? Stand dieser Spieler im Abseits? War der Ball über der Linie usw. 22 Spieler auf dem Feld, weitere auf der Ersatzbank, die Trainer, vielleicht 40000 Zuschauer, zahlreiche Reporter und natürlich die Millionen Experten an den Bildschirmen wollen die richtige Entscheidung von mir – und das sofort. Was mir mit einer entsprechenden Geräuschkulisse, ermutigenden Zurufen und handfesten Drohungen auch deutlich gemacht wird. Das alles findet womöglich auch noch in der 90. Minute statt, wenn ich schon zwölf bis 15 Kilometer gelaufen bin, mein Puls auf 160 ist und meine Entscheidung nicht nur den Ausgang dieses aktuellen Spieles bestimmt, sondern vielleicht sogar noch die Meisterschaft.
Das ist der reine, ungefilterte Stress. Rational und kritisch betrachtet ist das eine Situation, in der man auf keinen Fall eine Entscheidung treffen sollte – so lautet jedenfalls der Rat von Psychologen. Zu viel Aufregung, zu viel Emotionen, zu wenig Zeit, zu viel Druck. Alles in dieser Situation ist kritisch, aber es gibt keine Möglichkeit, sich zu entziehen.
Können Sie sich das vorstellen? Sie haben nur eine Chance, Sie können Ihre Entscheidung nicht korrigieren. Und alle wissen besser Bescheid als Sie. Zumindest sind die meisten der Fans davon absolut überzeugt. Also gibt’s nur eins: Sie tun es! Sie entscheiden.
Der Schweizer, Jahrgang 1959, war FIFA-Schiedsrichter 1994 bis 2004 und pfiff u.a. bei den Weltmeisterschaften 1998 und 2002 sowie bei den Europameisterschaften 2000 und 2004.
Der Schweizer ist heute Chef der Schweizer Spitzen-Schiedsrichter, in Deutschland kommentierte er gemeinsam mit dem Bundesliga-Trainer Jürgen Klopp und dem Journalisten Johannes B. Kerner die WM 2006 und die EM 2008. In seinem Buch „Du bist die Entscheidung: Schnell und entschlossen handeln“ wie auch als Referent gibt er seine Erfahrungen zum Thema weiter.
Artikel veröffentlicht 02.08.2011