Finanzspekulationen mit Nahrungsmitteln. Auszug aus der Studie, die Dirk Müller für das Hilfswerk Misereor erstellt hat. | Bis zum Jahr 2000 spielten Großinvestitionen des Finanzsektors im Nahrungsmittelbereich kaum eine Rolle. Der spekulative Handel mit Zukunftserwartungen von Nahrungsmittelpreisen war bestenfalls ein „Randspielplatz“ für wenige Experten und Spezialisten. Zwar wurde auch schon vorher der überwiegende Handel mit Rohstoffen auf Terminmärkten vollzogen, er entsprach jedoch den Interessen von Nahrungsmittelproduzenten und Nahrungsmittelverarbeitern. Sie nutzten die Terminmärkte zur Absicherung (dem sogenannten „Hedging“) stabiler Preise. Hinzu kam eine begrenzte Zahl von Spekulanten, die aufgrund ihrer guten Kenntnisse spezifischer Märkte die entstehenden Preisunterschiede zwischen den Märkten ausnutzen, also im übersichtlichen Umfang Arbitrage betrieben. Die Terminbörsen, an denen Weizen auf die Zukunft gehandelt wurde, stellten eine sinnvolle Dienstleistung für die Landwirtschaft dar. Der Bauer konnte seine Ernte, die noch auf dem Feld stand, schon jetzt an einen Mühlenbetreiber verkaufen, obwohl die Ernte erst in einigen Monaten erfolgte. So konnten beide Seiten ihre Geschäfte besser kalkulieren, da sie wussten, zu welchem Preis sie ihr Produkt kaufen bzw. verkaufen würden. Beide Seiten waren so abgesichert gegen eventuelle Preisschwankungen.
In den vergangenen Jahren jedoch hat sich der Charakter des Terminhandels grundlegend gewandelt. Seit dem Jahr 2000 hat die internationale Finanzlobby die Regulierungsbehörden davon überzeugt, die bis dahin geltenden Beschränkungen zu lockern oder ganz aufzuheben. Auch die Banken und Fondsgesellschaften wollten an dem lukrativen Geschäft mit Grundnahrungsmitteln beteiligt werden und führten es in der Folge ad absurdum. Die Tatsache, dass der Spekulant heute an den Terminbörsen nur einen Bruchteil des Gegenwertes seines eingegangenen Vertrages als eigenes Geld hinterlegen muss (die so genannte „Sicherheitsmargin“) führte dazu, dass die ohnehin einschiessenden Investmentgelder durch zusätzliche Kredite aufgebläht wurden. In den vergangen zehn Jahren hat sich das Volumen der an den internationalen Rohstoffbörsen gehandelten Terminkontrakte extrem erhöht. Zu den höheren Umsätzen durch kurzfristige Spekulanten kam ein explosionsartig gesteigertes Interesse breiter Anlegerschichten am Investment in Rohstoffe mittels Rohstofffonds (sogenanntem „managed money“) und Rohstoffderivaten (Wettprodukte auf Rohstoffe).
Alleine in den Jahren von 2003 bis 2008 sind die Investitionen in die beiden größten Rohstoff-Indexfonds von 13 auf 317 Milliarden US-Dollar explodiert. Das entspricht einem Anstieg um 2300 Prozent. Gemäß dem „Exchange Volume Report“ der Chicagoer Börse CBOT für Mai 2011 wurden in jenem Monat insgesamt 2,6 Millionen „Futures“ und „Optionen“ auf Weizen umgesetzt. Wobei mit einem einzelnen Kontrakt 136 Tonnen Weizen (5.000 Bushel á 27 kg) bewegt werden. Das ergibt knapp über 358 Millionen Tonnen Weizen und einem Gegenwert von 90 Milliarden US Dollar, die alleine am Handelsplatz Chicago im Mai gehandelt wurden, mithin 52 Prozent des Volumens der realen globalen Weizenproduktion des Jahres 2009.
Viele weitere Geschäfte entziehen sich den offiziellen Statistiken, da sie erst gar nicht über offi zielle Börsen abgewickelt werden. Man nennt sie „OTC“-Geschäfte („Over the Counter“). Solche Geschäfte werden unter den Marktteilnehmern direkt per Telefon oder über sogenannte „Dark Pools“ ausgehandelt. Laut einer Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) betrug das Gesamtvolumen der 2010 weltweit offenen OTC-Geschäfte 601 Billionen US$. Das entspricht dem 10-fachen Wert der gesamten Warenproduktion und Dienstleistungen der Erde im Jahr 2010. Der größte Teil entfällt dabei auf Zinsgeschäfte. Der Handel mit Rohstoffen liegt bei 2,92 Billionen Dollar. Das ist etwa soviel wie das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik Deutschland. In der Regel erhalten die Aufsichtsbehörden keinerlei Informationen über Art oder Volumen dieser außerbörslichen Umsätze. Es ist ein wesentlicher Aspekt und ein wesentliches Paradox der aktuellen Finanzkrise, dass die Politik kaum belastbare Entscheidungen treffen kann, da niemand weiß, welche Dominoeffekte eine Entscheidung auslösen würde. Die Behörden wissen nicht, wer gegen wen welche Risiken ausstehen hat und wie ein Zahlungsausfall das gesamte Finanzsystem zum Kippen bringen könnte.
Dirk Müller ist Gründer von www.cashkurs.com
Dirk Müller zählt in Deutschland zu den renommiertesten Finanzmarktexperten und ist regelmäßig zu sehen in TV, Print und auf Konferenzen und Vorträgen.
Dieser Artikel stammt aus der Printausgabe des Sachwert Magazin 1/2012