Eine Reihe kognitiver Verzerrungen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen dramatisch: irrelevante zeitliche Bezugsrahmen, falsche Vergleichsmaßstäbe und irreführende Referenzgrößen. Diese Denkfehler wirken auf die Grundzutaten Angst, Gier und Selbstüberschätzung wie Brandbeschleuniger. Nachdenken ist mühsam, fast schmerzhaft. Deshalb stellt unser Hirn viele Entscheidungen quasi auf Automatik: Faustregeln, Plausibilitätschecks, sogenannte Heuristiken helfen uns durch den Alltag, ohne dass wir vor Überanstrengung verrückt werden. Daniel Kahneman spricht hier von »schnellem Denken«. Die Tücke: Unser präfrontaler Neocortex, der Sitz des logischen Denkens, wird ausgebootet: Wieder denken wir nur, dass wir denken. Dessen sollten Sie sich bewusst sein. Denn wenn es darum geht, langfristig Ihre Lebensqualität aufrechtzuerhalten, müssen Sie langsam denken. Was ich bei fast jedem Anleger beobachte, ist das Setzen eines zeitlich viel zu kurzen Bezugsrahmens: im Regelfall vom 1. Januar bis zum 31. Dezember eines Jahres. Seit jeher hat die Finanzindustrie Anleger darauf konditioniert, ihre Wertentwicklung auf Jahressicht zu bewerten – bei vermögenderen Kunden auch meist quartalsweise. Warum, verstehe wer, will – warum nicht vom 4. Juni bis zum 28. Oktober des Folgejahres? Was in einer Agrargesellschaft zwingend und bei der Bewertung der Entwicklung von Unternehmen relativ sinnvoll ist, ist im Kontext Kapitalanlage kontraproduktiv. Denn kurzfristige Referenzrahmen, kurzfristige Bewertungen führen schnell zu ebenso kurzsichtigen Entscheidungen.
Unvergessen ist mir in dem Kontext ein Gespräch mit Herrn Borchert, der im Sommer 2015 zu mir kam, um mir mitzuteilen, er sei zutiefst menschlich enttäuscht von der Zusammenarbeit. Er habe die Hälfte seines Geldes verloren. Originalton: »Ich lag in dem Jahr schon mal bei plus 14 %, jetzt sind es nur noch plus 7 %.« Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass das kein Scherz war, sondern sein bitterer Ernst. Abgesehen davon, dass plus 7 % nicht das Gleiche ist wie minus 50 %: Der Verweis auf drei sehr gute vorausgegangene Jahre, einen Anlagehorizont, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis in die nächste Generation reichen wird, der Hinweis, dass ich ihm ungefähr zwei Dutzend Mal erzählt habe, dass bei seiner Strategie Rückschläge bis 30 % jederzeit möglich, nein, langfristig unvermeidbar sein werden: Das alles interessierte Borchert nicht. Wieder O-Ton: »Ich bin nicht gern ein Verlierer.« Wie konnte sich die Realität nur so bockig gegenüber seinen Wunschvorstellungen verhalten … Herr Borchert war (sonst) ein intelligenter, sensibler Mensch: Akademiker, hochgradig erfolgreicher Geschäftsmann mit einer großen Leidenschaft für Kunst und klassische Musik, der einen Teil seines Einkommens regelmäßig für kulturelle und soziale Zwecke spendete. Ein paar Monate später habe ich aufgegeben.
Warum erzähle ich Ihnen dieses Beispiel meines Scheiterns als Berater? Weil die Auswirkungen eines solchen Verhaltens auf Ihr Vermögen drastisch sein können. Meines Wissens lag das Geld von Herrn Borchert, nachdem er die »Verluste« nicht mehr ertragen konnte und alles verkauft hatte, noch Jahre später unangelegt auf einem Girokonto. Dank eines falschen zeitlichen Bezugsrahmens hatte Borchert das Programm nahtlos von Gier auf Angst umgestellt – ein Verhalten, das ihn nicht nur akut viel Lebensfreude gekostet hat, sondern langfristig eine Menge an finanziellem Gestaltungsspielraum. Bei Ihrer Vermögensanlage geht es darum, langfristig Ihren Lebensstandard zu sichern und dafür zu sorgen, dass Geld langfristig dazu führt, dass Sie zufriedener und glücklicher sind. Und dennoch sucht man beim Thema Wertpapieranlagen – anders als etwa bei Immobilien – eine langfristig strategische Herangehensweise bei Privatanlegern oft vergebens. In den spöttischen Worten eines Kollegen: »Wenn ein Kunde langfristig sagt, meint er bis zur nächsten Korrektur.« Eine der größten Vorteile bei der Kapitalanlage ist also paradoxerweise ihr größtes Problem: die Preistransparenz und jederzeitige Verfügbarkeit. Je nachdem, wie diszipliniert Sie sind, kann es ein entscheidender Nachteil sein, wenn Sie jederzeit ohne Probleme zu Konsumzwecken in die Keksdose greifen, Ihren Emotionen oder einer »großartigen« Idee zur Neustrukturierung des Vermögens nachgeben können. Das ist zwar kein Naturgesetz – wie Sie damit umgehen und wie Sie sich verhalten, ist letztlich Ihre freie Entscheidung.
Aber es ist alles andere als leicht. Passen Sie auf sich auf. Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass Sie eine Kapitalmarktinvestition im Grunde wie eine Immobilieninvestition betrachten müssen. Anlagehorizont ist nicht das gleiche wie Verfügbarkeit, sondern häufig eher das Gegenteil. Solange Sie danach handeln, sind Sie auf der sicheren Seite. Anleger setzen sich nicht nur zeitlich die falschen Referenzrahmen. Ein weiterer Klassiker falsch gesetzter Bezugspunkte ist, sich am Einstiegskurs eines Investments mental festzuhalten. Häufig wird das kombiniert mit dem Denkfehler, jede Investition isoliert anzusehen, anstatt das Portfolio als Ganzes zu betrachten. Ob eine Investition gut oder schlecht ist, wird dann danach beurteilt, wie weit sie über oder unter dem Einstiegskurs liegt, und nicht danach, ob sie sinnvoller Bestandteil einer Vermögensstruktur ist. Im Laufe der Zeit wird dann dieses sinnfreie Korsett um einen weiteren irrelevanten Anker erweitert: den einmal erreichten Höchstkurs. Ich habe mehrfach erlebt, wie unglaublich schwer sich Anleger damit tun, sich von hochspekulativen Anlagen wie Bitcoin oder Hightech-Aktien zu trennen, wenn sie wieder unter dem Kurs liegen, den sie schon einmal erreicht hatten. Auch wenn die Papiere weit im Plus lagen, auch wenn sie in Bezug auf das Gesamtvermögen massiv übergewichtet waren, auch wenn sich ein Verlust direkt auf den Lebensentwurf durchschlagen würde.
Einstandsdenke und isoliertes Betrachten einzelner Wertpapierpositionen führen dabei zu völlig absurden Überlegungen: Stellen Sie sich zwei Anleger vor. Beide haben in Gold investiert. Frau Meier hat 2012 für 3 % ihres Vermögens Goldmünzen in ihr Schließfach gelegt. Sie hat über 1.300 Euro pro Unze gezahlt. Herr Weiß hat sich für 45 % seines Vermögens 2009 ein Goldzertifikat für 700 Euro pro Unze gekauft. Für die Überlegung, was jetzt zu tun ist, spielt der Einstiegskurs sachlich überhaupt keine Rolle. Und dennoch: Frau Meier hat sich jahrelang geärgert, eventuell hat sie die Münzen wieder verkauft, nachdem sie endlich wieder ihren Einstiegskurs erreicht hatten. Und das, obwohl sie Gold in einer sinnvollen Größenordnung und in einer sinnvollen, weil realen Form gekauft hat. Herr Weiß dagegen fühlt sich vermutlich wie ein Anlegergott: die Position fast verdoppelt, der einmal erreichte Höchstkurs aus Mitte 2012 im Frühjahr 2020 geknackt. Dass er mehr Glück als Verstand hatte, dass er mittlerweile durch den Kursanstieg mit über 80 % seines Gesamtvermögens eine gefährliche Monokultur unterhält, wird er nicht wahrnehmen. Auch dass er überhaupt kein Gold gekauft hat, sondern von seiner Bank einen Zettel mit einem Versprechen darauf bekommen hat, wird er erst dann merken, wenn seine Bank pleite ist. Dann wird seine Investition in die irrationale Ersatzwährung Gold gerade in dem Szenario versagen, für das er es erworben hat: eine massive Wirtschaftskrise mit Bankenpleiten wie zu Lehmans Zeiten. Erst wenn das Schiff sinkt, wird er merken, dass er in seiner Hand keine Rettungsweste hält, sondern nur den Gutschein für eine Rettungsweste.
Wie so viele Anleger verwechselt Herr Weiß ein ex post erreichtes Ergebnis mit einer ex ante verantwortungsvollen Strategie. Wenn ein Mensch betrunken mit dem Auto von einer Party nach Hause fährt, ist das verantwortungslos, eventuell kriminell. Auch, wenn er nicht erwischt wurde, auch, wenn er keinen Unfall verursacht hat und auch, wenn er sich so das Geld für das Taxi gespart hat. Ähnlich fatal und ähnlich verbreitet ist das Anlegen falscher Vergleichsmaßstäbe. So halten annähernd 99 % aller deutschen Anleger und 95 % aller Banker den deutschen Kapitalmarktindex DAX für »den Markt«, mit dem sie die Entwicklung der eigenen Geldanlage vergleichen. Unsinn! Der DAX ist im globalen Maßstab ein Dorfindex mit erstaunlich hohen Risikokennziffern. Deutschland macht weniger als 3 % des weltweiten Aktienmarkts aus, und der DAX repräsentiert nur einen Teilausschnitt davon. Dasselbe gilt aus der Perspektive des Anlegers. Im Regelfall besteht das Vermögen eines Deutschen im Wesentlichen aus dem Wert der eigenen Arbeitskraft, Immobilien und Versicherungen – es ist also gar nicht im Depot. Im Depot finden sich dann neben meist irrational übergewichteten deutschen Aktien auch internationale Aktien, Anleihen, Mischfonds und andere Wertpapiere. Das eingegangene Risiko ist regelmäßig deutlich niedriger als das des DAX. Mit einer fast zwangsläufigen Folge: Solange der Kapitalmarkt gut läuft, wird Ihr Depot meist subjektiv schlecht aussehen. Und wenn Verluste im Depot auftreten? Dann spielt der DAX, der mutmaßlich viel stärker abgestürzt ist, auf einmal keine Rolle mehr. Nicht wenige Anleger suchen sich dann auf einmal eine andere Referenz: das Festgeld, und seien es auch nur 0,01 %. Auf diese Weise bauen sie sich eine Welt, die zu permanenter Unzufriedenheit führt. Herr Borchert, der plus 7 % und minus 50 % nicht unterscheiden konnte, war ein Paradebeispiel für diese Technik. Fehlentscheidungen sind dabei fast unvermeidlich, da die Anleger einer Fata Morgana hinterherjagen.
Auszug aus dem Buch »Über Geld nachdenken – Klug entscheiden, gelassen bleiben, Lebensqualität gewinnen« von Nikolaus Braun
Den Beitrag »Unwissenheit frisst Ratio« und weitere spannende Texte lesen Sie im aktuellen Sachwert Magazin ePaper Ausgabe 129 –> LINK