In den zurückliegenden Wochen habe ich mich gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen mit der Frage auseinandergesetzt, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen. Als wir bei dm 1982 unsere Grundsätze formuliert haben, war unsere Fragestellung im Grunde identisch. Denn wir haben beschreiben wollen, in welcher Gemeinschaft wir zusammenarbeiten wollen. Und wir haben definiert: „Wir wollen allen Mitarbeitern die Möglichkeit geben, gemeinsam voneinander zu lernen, einander als Menschen zu begegnen, die Individualität des anderen anzuerkennen, um die Voraussetzung zu schaff en, sich selbst zu erkennen und entwickeln zu wollen und sich mit den gestellten Aufgaben verbinden zu können“.
In den Jahren nach der Formulierung dieser Grundsätze haben wir immer wieder erlebt, was es ausmacht, ein Unternehmen als „Sozialen Organismus“ zu denken und nicht als eine Gewinnmaximierungs-Maschinerie. Denn wenn wir das Unternehmen als einen „Sozialen Organismus“ betrachten, dann werden Gewinn oder Verlust zweitrangig und es tritt das Miteinander in den Vordergrund – und durchaus nicht zu Lasten der Individualität, sondern eher individualitätsfördernd. Bei unserer Zusammenarbeit war und ist es für uns deshalb wesentlich, die Belange des Gegenübers und auch seine Eigentümlichkeiten wahrzunehmen, damit wir sie oder ihn wertschätzen und verstehen können.
Einer der großen Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts, Erich Fromm, hat diese Haltung als „Liebe“ bezeichnet. Fromm meinte, Liebe sei eine produktive Orientierung mit bestimmten Merkmalen: „Man muss sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für es verantwortlich fühlen, es achten und verstehen.“ Für die Menschen und für die gestellten Aufgaben, so haben wir unsere dm-Grundsätze stets verstanden. Zum Glück war ich auch in den Folgejahren nie von der Einschätzung spekulierender Investoren abhängig, sondern habe stets geduldig versucht, mich vor allem bei meinem unternehmerischen Tun immer besser mit den Menschen und der Welt vertraut zu machen. Es ist für mich wie für alle Beteiligten eine ständige Herausforderung, im täglichen Miteinander die Eigentümlichkeiten der Anderen anzuerkennen und wertzuschätzen. Aber diese Anerkennung und Wertschätzung ist immens wichtig, denn nur so lässt sich auf Dauer Verantwortung übertragen und vor allem Verantwortungsbereitschaft wecken. Und Verantwortung macht nicht nur Spaß, sie fördert zugleich ein aktives Mitdenken und Mitmachen.
So richtig gelingt dieses Mitdenken und Mitmachen aber erst dann, wenn möglichst viele nicht nur nach dem „Wie“, sondern auch nach dem „Wozu“ oder „Warum“ fragen. Das ist die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns, die immer mehr Menschen bei dm intensiv bewegt. Auf der Suche nach Antworten hatten wir vor einigen Jahren das Glück, mit Joachim Gauck einen Referenten zu diesem Thema zu finden, kurz bevor das Amt des Bundespräsidenten an ihn herangetragen wurde. Der heutige Bundespräsident hat uns, ganz im Sinne von Erich Fromm, mit auf den Weg gegeben: Man muss „frei von“ den äußeren und inneren, scheinbaren, Notwendigkeiten sein, um „frei zu“ etwas sein zu können. Es wird einem schnell klar, dass man erst dann fähig ist, ein verantwortliches und zukunftsorientiertes Individuum zu sein.
Diese „Freiheit zu etwas“ ist in einem überschaubaren sozialen Organismus, ob es sich dabei um das 30-köpfige Team eines dm-Marktes handelt oder um die 40.000 dm-Mitarbeiter in Deutschland, nicht leicht. Aber wir können vermuten, dass es uns bisher gut gelungen ist, diese Freiheit zu leben. Für eine ganze Gesellschaft, ob Deutschland oder Europa, ist diese Aufgabe sehr viel schwerer. So sehr, dass eine große Koalition, die Großes leisten könnte, sich rasch in Detailarbeit flüchtet.
Die Frage nach der Gesellschaft, in der wir zukünftig leben wollen, kann und muss mehr hervorbringen als politische Detailarbeit. Und sie muss unzweifelhaft daran ausgerichtet sein, dass wir Bürger nicht als Mittel gesehen werden, sondern als Zweck betrachtet werden. Denn nur wenn der Mensch Zweck ist, dann haben Politik und Wirtschaft, Kapital und Geld eine dienende Funktion, und nur mit dieser Sichtweise sind Politik und Wirtschaft nicht kalt, sondern menschlich und erwärmend. Und nur dann leben wir in einer Gesellschaft, die die Fähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe fördert. Lassen Sie uns mehr darüber nachdenken, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Götz Werner ist Gründer und Aufsichtsratsmitglied des Unternehmens dm-drogerie markt, dessen Geschäftsführer er 35 Jahre lang war. Er leitete das Institut für Entrepreneurship am Karlsruher Institut für Technologie. Werner ist zudem Gründer der Initiative „Unternimm die Zukunft“ und mehrfacher Buchautor.
Die Kolumne erschien in der Februar-Ausgabe des dm-Kundenmagazins alverde. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Weitere Kolumnen unter www.dm.de