Könnte die alte Weisheit «Veränderung ist die einzige Konstante im Leben» auch auf Aktienmärkte zutreffen? Nach einer aktuellen Studie der Credit Suisse, die die Transformation von Branchen während der letzten 100 Jahre untersuchte, lautet die Antwort «Ja».
Der Aufstieg und Fall von Branchen
«Was ist absurder als die Aussicht auf Lokomotiven, die doppelt so schnell fahren wie Postkutschen?». Mit diesen Worten kommentierte «The Quarterly Review» die Anfänge des Eisenbahnverkehrs im Jahr 1825. In der Folgezeit legte die Eisenbahnindustrie einen kometenhaften Aufstieg am Anlagehimmel hin und brach wieder ein, um am Ende mit einem winzigen Anteil am Markt vertreten zu sein. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch andere Branchen, und es gab nicht immer ein Happy End. Können langfristige Anleger etwas aus der Geschichte lernen? Gibt es eine Anlagestrategie, die gegenüber Veränderungen sicher ist, oder wie können Anleger optimistischer in die Zukunft blicken?
Adapt or Die ‒ Aufstieg und Fall von Branchen
Die industrielle Revolution markierte einen Wendepunkt – der Wandel beschleunigte sich und brachte zahlreiche technologische Innovationen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich neue Branchen und alte starben. Postkutschen, Kanalschiffe, Dampfmaschinen und viele mehr mussten weichen; an ihre Stelle traten Elektrizität, Autos und die Telekommunikation, um nur einige zu nennen. Während manche noch eine Rolle in unserem Alltag spielen, sind andere längst in Vergessenheit geraten.
Global Investment Returns Yearbook 2015
In ihrem «Global Investors Returns Yearbook 2015» untersuchten und verglichen die Autoren Elroy Dimson, Paul Marsh und Mike Staunton die industrielle Ausrichtung von Publikumsgesellschaften in den USA und Grossbritannien in den Jahren 1900 und 2015. Die Ergebnisse widerspiegeln die Entwicklung der technologischen Landschaft.
Die Geschichte der Eisenbahnindustrie ist ein markantes Beispiel. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert nahm dieser Sektor mit einem Anteil von 63 Prozent am US-Aktienmarkt eine vorherrschende Stellung ein, im Jahr 2015 lag sein Anteil bei weniger als 1 Prozent. Innerhalb von 115 Jahren ist diese einst boomende Branche mit Blick auf die Aktienmärkte in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht.
Auch zahlreiche andere Branchen haben entweder an Bedeutung verloren oder sind völlig verschwunden, wodurch sich die Branchenlandschaft in der britischen und amerikanischen Volkswirtschaft und am Aktienmarkt veränderte. Nicht in allen Fällen war dies unmittelbar auf das Branchensterben zurückzuführen. Textil-, Eisen-, Kohle- und Stahlindustrie sind nicht mehr existent, da eine Verlagerung an kostengünstigere Standorte erfolgte.
Die Branchen, die überlebt haben, mussten häufig einen tief greifenden Wandel vollziehen, um den neuen Markt- und Kundenerwartungen Rechnung zu tragen. Zum Beispiel die Telekommunikationsindustrie: Sowohl die Telegrafie im Jahr 1900 als auch Smartphones im Jahr 2014 sind High-Tech-Lösungen ihrer Zeit, die aus dem gleichen Technologiebereich stammen.
Markant ist auch der hohe Anteil von neuen Branchen, die nach 1900 entstanden und im Laufe der Jahre enorme Marktanteile in den USA und Grossbritannien (62 Prozent bzw. 47 Prozent) erreichten. Dazu zählen die Sektoren Technologie, Gesundheit sowie Öl und Gas, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch inexistent waren.
Eisenbahnen lösten Kanalschiffe ab
Mit der industriellen Revolution entstand die Notwendigkeit eines modernen und effizienteren Transports. Die Pferdekutschen und Waggons mussten Kanalschiffen weichen, da diese 60 Mal effizienter waren (gemessen in Tonnenmeilen pro Tag). Die Anleger stürzten sich auf die Kanalunternehmen – 1792 wuchs der Hype um Kanalaktien an der Londoner Börse ins Unermessliche, im darauf folgenden Jahr kam es zum Crash. Die neue Branche überlebte diesen Einbruch und die Kanalaktien stiegen zwischen 1816 und 1824 um 140 Prozent.
Dies markierte jedoch das Ende des Kanalbooms, da eine schnellere und effizientere Transportmöglichkeit entwickelt wurde – die Eisenbahn. Damit begann ein neues Zeitalter. Über 25 Jahre nach den Anfängen der Eisenbahn waren die Kanalaktien um 70 Prozent gefallen. Obwohl die Eisenbahn die Welt im Sturm eroberte, hatten die Anleger mit Höhen und Tiefen zu kämpfen. An den Börsen wurden das gleiche Anlegerverhalten und die gleichen Schwankungen wie bei den ersten Emissionen von Kanalaktien verzeichnet.
Alasdair Nairn kommt in seinem Buch «Engines that Move Markets» zu dem Schluss, dass die Märkte gegenüber den meisten Neuerungen mit Skepsis und Ablehnung und dann mit übermässiger Euphorie reagieren. Das Ergebnis sind «Börsenblasen». Erst wenn sich die Gemüter der Anleger etwas abgekühlt haben, kommt es zu der Phase, in der rationale Einschätzungen getroffen werden und Aktien angemessen bewertet werden. Allerdings sind die grössten Profiteure von neuen Technologien in der Regel nicht die Börsenanleger, sondern Innovatoren, Firmengründer und die Gesellschaft als Ganzes.
Triumph der Erfahrung über die Hoffnung?
Es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob Anleger sich auf neue Branchen konzentrieren oder doch lieber nach Potenzial in alten Branchen suchen sollten.
Um diese Frage zu beantworten, analysierten die Yearbook-Forscher die späteren Jahre des Eisenbahnverkehrs, als dieser Industriezweig an Bedeutung verlor und sein Anteil an der Marktkapitalisierung des Transportsektors auf unter 1 Prozent sank. Seine marktbeherrschende Position geriet durch neuere Transportmittel wie Flugzeuge und Lkws ins Wanken. Die 1950er und 1960er Jahre waren für den Eisenbahnsektor besonders schwierig. Doch nach dem absoluten Tiefpunkt in den 1970er Jahren begann die Eisenbahnindustrie, die Konkurrenz hinter sich zu lassen. Möglich war dies durch unterbewertete Aktien infolge der negativen Entwicklungen in der Vergangenheit. Aber auch industrielle Rationalisierung und höhere Produktivität führten zu dieser Performance-Steigerung.
Bezüglich S&P-500-Unternehmen bestätigt Jeremy Siegels Studie «The Future for Investors: Why the Tried and the True Triumph Over the Bold and the New», dass Anleger, die an den ursprünglichen Indexkomponenten festhielten, höhere Renditen erzielten als diejenigen, die in Neuzugänge investierten. Siegel erklärt: «Anleger neigen dazu, ‹neue› Aktien überzubezahlen und ‹alte› Aktien zu ignorieren […] Wachstumstitel sind so stark nachgefragt, dass Anleger in überteuerte Aktien in sich schnell verändernden und wettbewerbsintensiven Branchen gelockt werden, in denen es nur wenige wirkliche Gewinnertitel, dafür aber unzählige Verlierer gibt.»
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass dies auch auf IPOs zutrifft. Anleger, die auf der Suche nach einem neuen Unternehmen sind, welches das Potenzial einer Erfolgsgeschichte wie Apple oder Microsoft hat, sind vom Goldfieber erfasst und lassen häufig rationale Bewertungen ausser Acht. Laut Tim Loughran und Jay Ritter, die das IPO-Phänomen in der Studie «The New Issues Puzzle» untersuchten, scheinen Anleger die Wahrscheinlichkeit, einen grossen Gewinner zu entdecken, systematisch falsch einzuschätzen.
Bedeutet dies, dass Investitionen in etablierte Branchen das Erfolgsrezept sind? Nein. Der Bericht liefert Belege dafür, dass sowohl neue als auch alte Branchen enttäuschende, aber auch attraktive Renditen erzielen können. Während neue Technologien häufig mit übermässigem Enthusiasmus aufgenommen werden, begegnen Anleger etablierten Branchen pessimistisch. Eine rationale und sorgfältige Bewertung ist der Schlüssel zum Erfolg.
Anleger, lernt Eure Lektion!
Die Betrachtung der Entwicklung der Branchen über einen Zeitraum von 115 Jahren liefert eine hochinteressante Chronik, hilft jedoch nicht bei der Prognose, welche Branchen in den nächsten 100 Jahren eine positive Entwicklung verzeichnen werden. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Branchen Phasen einer Über- und Unterbewertung durchlaufen können. Der Bericht der Credit Suisse untersuchte, ob dieses Wissen nutzbringend durch Branchenrotation eingesetzt werden kann. Es wurden zwei Simulationen entwickelt (beide mit Daten aus den Jahren 1900–2014): eine konzentrierte sich auf das Momentum von in der Vergangenheit erzielten Renditen, die andere auf eine Wertmessung.
Letztere erwies sich als nützlich, da Phasen, in denen Aktien über- oder unterbewertet werden, vermieden werden. Die erste Strategie erscheint jedoch effektiver. Die Analyse von in der Vergangenheit erzielten Renditen ergab, dass es in einem Zeitraum von einem Jahr keinen Umkehreffekt gab, während gleichzeitig der Momentum-Effekt bestätigt wurde – die Gewinner legten weiter zu und die Verlierer büssten weiter ein. Die drei Professoren stellten fest: «Die Anlage in Branchen, die im Vorjahr die beste Performance erzielt haben, und die Investition in Short-Positionen in Branchen mit der schlechtesten Entwicklung haben seit 1990 eine annualisierte Rendite von ‹Gewinner-minus-Verlierer› von 6,1 Prozent in den USA und 5,3 Prozent in Grossbritannien ergeben.»
Wie ist der Ausblick für 2015, wenn man davon ausgeht, dass die Rotationsstrategien weiterhin greifen? Nach Einschätzung der Autoren sind die bevorzugten Branchen in den USA Versorger, Versicherer, Transport und Gesundheit und in Grossbritannien Versorger, Tabak, Pharma und Lebensversicherer.
Das ist lediglich ein Trend, der sich in der Vergangenheit als gewinnbringend erwies, aber auch schon Verluste einbrachte (ungefähr in einem von drei Jahren). Es muss betont werden, dass die Performance in der Vergangenheit keine Garantie für die zukünftige Performance darstellt. Der in der Vergangenheit verzeichnete Erfolg dieser Strategie kann jedoch geduldigen Anlegern mit langfristiger Ausrichtung Denkanstösse geben.
Bild: Jürgen Hüsmert / pixelio.de